Hans Gehl (1939 - 2022) - ein Nachruf
Veröffentlicht am 11 Oct 2022Wir nehmen Abschied von dem Mundartforscher und Volkskundler Dr. Hans Gehl, ein hochgeachteter und engagierter Mitarbeiter, der fast zwanzig Jahre in unserem Institut gearbeitet hat, und am 4. Oktober 2022 in Tübingen gestorben ist.
Hans Gehl wurde am 7. Februar 1939 in Glogowatz (Vladimirescu, Kreis Arad, Rumänien) geboren. Seine Sozialisation hat in der frühkommunistischen Zeit mit ihren diskriminierenden Maßnahmen gegenüber der deutschen Minderheit stattgefunden. Prägende Ereignisse seiner Jugendzeit waren das Kriegsende, die politische Entrechtung und Marginalisierung und die Deportation der Banatdeutschen in die kriegszerstörte Sowjetunion.
Nach der Grundschule in Glogowatz besuchte er von 1952 bis 1956 die Gartenbauschule und das Gymnasium in Lippa (Lipova), um anschließend bis 1961 Germanistik und Rumänistik an der Temeswarer Universität (heute Universität des Westens) sowie von 1963 bis 1969 Romanistik im Fernstudium an der gleichen Hochschule zu studieren.
Von 1961 bis 1972 war Gehl Sprachlehrer an verschiedenen Grundschulen und Gymnasien im Banat. 1972 wechselte er bis zu seiner Aussiedlung 1985 an den Fremdsprachenlehrstuhl der Temeswarer Technischen Universität „Traian Vuia“. 1976 promovierte er an der Universität Temeswar bei Stefan Binder in deutscher Dialektologie über die oberdeutschen fescht-Mundarten im Banat. Prägend für seine Forschungstätigkeit sollte sich seit 1978 die Mitarbeit am angestrebten und bis heute ein Desiderat gebliebenes „Banater deutschen Wörterbuch“ erweisen. Seine ersten, in fünf von ihm herausgegebenen Aufsatzbänden zusammengefassten Arbeiten betrafen hauptsächlich die Volkskunde der Deutschen im Banat (1973-1984). Sein Interesse dafür wurde schon in seinem Heimatort Glogowatz geweckt. Methodisch orientierte sich dabei an den Arbeiten des Volkskundlers Johannes Künzig und des Germanisten Hugo Moser, die in ihrer Forschungstätigkeit mit den südosteuropäischen regionalen Räumen (Banat, Sathmar) in Berührung gekommen waren, wie auch an jenen des Banater Volkskundlers und Mundartforschers Hans Hagel.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Freiburg übersiedelte Hans Gehl 1987 nach Tübingen an das neu gegründete Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, an dem er bis zum Eintritt in den Ruhestand 2004 den Forschungsbereich Dialektologie und Volkskunde vertrat. Hier widmete er sich mit vollem Einsatz der Feldforschung, eine mit erheblichem Zeitaufwand verbundene empirische Forschungsmethode zur Erhebung empirischer Daten mittels Beobachtung und Befragung der Dialektsprecher im „natürlichen“ Kontext. Die gesamte Forschungstätigkeit quer durch die südosteuropäischen donauschwäbischen Siedlungsregionen erledigte er mit Hilfe seiner Mitarbeiter und studentischen Hilfskräfte, bei deren Wahl er eine gute Hand hatte.
Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit waren die lexikographische Darstellung und sprachgeographische vergleichende Verortung der donauschwäbischen Mundarten mittels Sprachaufnahmen der täglichen Umgangssprache. Sein Anliegen war jedoch, nicht nur Sprachproben aufzunehmen, sondern – in Anlehnung an seine Vorbilder – alle ethnographisch relevanten Fakten, die die Heimatvertriebenen und Spätaussiedler in ihrem mentalen Gepäck mitbrachten vor dem Vergessen durch ihre Aufzeichnung und Archivierung zu bewahren. Zusätzlich zu den verschiedenen Ortsdialekten, deren Wortschatz er erfasst und beschrieben hat, widmete er sich den regionalen donauschwäbischen Stadtsprachen und Soziolekten wie die Handwerkersprachen. Dabei setzte er sich mit den im „Deutschen Sprachatlas“ zur Anwendung kommenden Methoden auseinander, mit der die Dorfdialekte und Stadtsprachen beschrieben und auch miteinander verglichen werden konnten. Auf den mehreren Hundert von ihm aufgenommenen Tonbändern finden sich nicht nur die Wenkersätze, sondern auch Mitteilungen über handwerkliche Arbeitsgänge und –geräte sowie zahlreiche lebensgeschichtliche Erzählungen. Seine Sammeltätigkeit, deren Ergebnisse in das Tonarchiv des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde eingegangen sind, fand in der Fachwelt Anerkennung.
Im Hinblick auf den Fachwortschatz der Handwerker, der im Unterschied zur Umgangssprache auf Spezialausdrücke angewiesen war, hat Hans Gehl eine systematische Sammelstrategie entwickelt. Die Aufarbeitung der in jahrelanger Arbeit zusammengetragenen Tondokumente führte im Zeitraum 1997-2004 zu mehreren Wörterbüchern (Bekleidungs- und Baugewerbe, Landwirtschaft und Lebensformen), in denen die Textbelege nach formalen und inhaltlichen Kriterien wie auch nach geographischen Gesichtspunkten (nach Siedlungsregionen und Ortschaften) erschlossen wurden.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt seiner Forschungen bildeten die Stadtsprachen, denen er sich in mehreren Publikationen zuwandte. Dabei ging er auf die Entstehung und geschichtliche Entwicklung der Stadtsprachen, auf deren Gebrauch in der schriftlichen und mündlichen Kommunikation wie auch auf Sprachinterferenzen ein.
Von 2000 bis 2003 hat Gehl Feldforschungen über die regionalen Volkskulturen und kulturellen Interferenzen im rumänisch-ungarisch-ukrainischen Kontaktraum an der oberen Theiß unternommen.
Hans Gehls Forschungstätigkeit hat die frühe Entwicklung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde mitgestaltet. Seine positive Grundhaltung, sein ruhig-gelassenes Auftreten wie auch sein ungebrochener Fleiß zählten zu seinen Charakterzügen. In seinem beruflichen Umfeld war sein Wissen geschätzt. Er war Mitglied der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde e.V. und Honorarprofessor der Marmaroscher Nord-Universität in Neustadt (Baia Mare).
Unser tiefes Mitgefühl gilt seinen Hinterbliebenen – Ehefrau und Sohn. Wir werden den Sprachforscher Hans Gehl in guter Erinnerung behalten.
Im Namen der Mitarbeiter des IdGL